Elf Tage nach dem der (ehemalige) südkoreanische Präsident in einer Nacht und Nebel Aktion das Kriegsrecht verhängte und damit einen versuchten Militärputsch initiierte, wurde dieser am 14. Dezember 2024 im zweiten Anlauf von der Nationalversammlung des Amtes enthoben. Ein Überblick.
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Zu den Hintergründen und Entwicklungen habe ich in insgesamt drei Artikeln bereits berichtet. Zum Nachlesen: die langfristigen Hintergründe, eine Bestandsaufnahme eine Woche nach dem Kriegsrecht und ein Überblick über jüngste Entwicklungen bis kurz vor der zweiten Abstimmung heute.
Die heutige Abstimmung war der zweite Versuch, nachdem letzte Woche ein Großteil der Abgeordneten der konservativen People Power Partei (PP) die Abstimmung noch boykottiert hatten. Für ein formelles Abhalten der Abstimmung mussten mindestens 200 von 300 Abgeordneten (also zwei Drittel) teilnehmen. Nur drei der 108 PP-Abgeordneten brachen an jenem Tag mit ihrer Parteiführung, eine ordnungsgemäße Abstimmung kam dadurch nicht zu Stande. Dies wurde in den Folgetagen auch von konservativer Seite heftig kritisiert.
Heute nahmen alle Abgeordneten der PP an der Abstimmung teil, weshalb einer Auszählung nichts im Wege stand.
Abgegeben wurden 300 Stimmen. Das Endergebnis lautet 204 Abgeordnete für die Amtsenthebung, 85 gegen die Abstimmung, 3 Enthaltungen und 8 ungültige Stimmen. Es ist daher anzunehmen, dass die PP nach wie vor großteils hinter Yoon steht.
Yoon wird vor allen Dingen der Tatverdacht des Aufruhrs (naeran 內亂) durch eine unkonstitutionelle und illegale Kriegsrechtserklärung, die einen Verfall der rechtsstaatlichen Ordnung nach sich zog vorgeworfen. Also eine Planung und Verhängung des Kriegsrechts ohne durch die in der Verfassung in Artikel 77 festgeschriebenen Gründe einer "militärischen Erfordernis" oder der "Schützung der rechtsstaatlichen Ordnung" in "Zeiten des Krieges, bewaffneten Konflikts oder einer ähnlichen nationalen Notlage." Yoon selbst verteidigte noch gestern (am 13. Dezember 2024) die Verhängung in einer dreißigminütigen Rede als eben eine solche Notlage.
Yoon wurde damit als dritter Präsident (nach Roh Moo-hyun 2004 und Park Geun-hye 2017) von der Nationalversammlung seines Amtes enthoben. Nun muss der Oberste Gerichtshof innerhalb von 60 Tagen entscheiden, ob die Amtsenthebung rechtskräftig ist. Dies war 2004 nicht der Fall, 2017 hingegen schon.
Auch muss Yoon mit einer Anklage wegen Aufruhrs rechnen, ein Delikt auf das eine Mindeststrafe von 5 Jahren Gefängnis und als Maximalstrafe (theoretisch) die Todesstrafe steht. Bereits 1996 wurden mit Chun Doo-hwan und Roh Tae-woo zwei ehemalige Präsidenten, die beide 1979-80 in einen Militärputsch und ein ziviles Massaker involviert waren, zum Tode verurteilt (und später begnadigt).
In einer ersten Ansprache verteidigt Yoon erneut seine Entscheidungen und zeigt keinerlei Reue. Er werde jedenfalls bis zum Ende kämpfen.
Mit der Amtsenthebung endet vorläufig eine durchaus als kurios zu bezeichnende innenpolitische Krise auf der koreanischen Halbinsel. Allerdings heißt das nicht, dass die koreanische Innenpolitik zur Ruhe kommt. Als interimistischer Präsident wird Premierminister Han Duck-soo (PP) agieren. Es bleibt abzuwarten, welche Richtung die PP in den Folgetagen einschlagen wird.
Denn auch heute gehört die Straße keineswegs nur den Gegnern Yoon Seok-yeols. Auf einer Gegendemonstration im Zentrum Seouls, auf jenem Platz der die sog. Kerzenlichtrevolution von 2016-17 signalisiert, fand heute eine konservative Großdemonstration statt, auf der vertraute Rufe gegen "pro-nordkoreanische Strömungen" (sog. chusapa 주사파) zu vernehmen waren. Dort wurde die Verhängung des Kriegsrechts verteidigt und die Verhaftung Lee Jae-myungs gefordert.
Mehrere Artikel samt Fotos, die in der konservativen Chosun ilbo veröffentlicht wurden, stellen die beiden Demonstrationen als gleichberechtigt gegenüber. Die Zeitung, die seit den 1990er-Jahren immer wieder für ihre Rechtsaußenposition kritisiert wird, ist die einzige der großen Tageszeitungen, die dem konservativen Lager diese Aufmerksamkeit zu Teil werden lässt.
Demonstrationen in Seoul am 14. Dezember. Links eine Anti-Yoon Demo vor dem Parlament, rechts eine Pro-Yoon Demo auf der Gwanghwamun-Plaza. Das Bild stammt aus der konservativen Chosun ilbo, die damit zwei gleichgestellte Lager zeigen möchte.
Allerdings täuschen derartige Bilder oft eine falsche Realität vor. Ein Blick auf eine Luftaufnahme zeigt die Größe der heutigen Demo vor dem Parlament.
Eine Luftaufnahme der zentralen Demonstration für die Amtsenthebung Yoon Seok-yeols vor dem koreanischen Parlament auf der Insel Yeouido in Seoul am 14. Dezember 2024. Quelle: Yonhap News via Facebook.
Dagegen war die Gegendemo eine eher beschauliche Angelegenheit, die an die Taegukki-Demonstrationen seit 2017 erinnert, wie auf Vergleichsbildern in der Chosun ilbo ersichtlich ist.
Meinungsumfragen stützen dieses Bild. Diese sehen derzeit knapp drei Viertel der Südkoreaner pro-Amtsenthebung und auch die letzten Wahlergebnisse zeigen, dass derzeit eher die DP das Vertrauen der südkoreanischen Gesellschaft genießt. Das soll nicht heißen, dass die Gesellschaft nicht gespalten und Yoon keinerlei Popularität mehr genießt. Es zeigt nur, dass das wahre Kräfteverhältnis derzeit wohl anders aussieht als in 2 Wochen alten Meinungsumfragen. Selbst damals lag in einer Realmeter-Umfrage die DP mit 47.5% weit vor der PP mit 31.6%, in einer Gallup Umfrage lag das Verhältnis bei 27% zu 34%.
Eins kann allerdings mit ziemlicher Sicherheit gesagt werden: Die konservative Neuorientierung nach der Amtsenthebung Park Geun-hyes 2017, falls man überhaupt davon sprechen kann, kann großteils als gescheitert gelten. Das heißt nicht, dass die konservative Partei - unter welchem Namen auch immer - bei den nächsten Wahlen keine Rolle spielen mehr wird. Es signalisiert allerdings (bereits 2016-17 offensichtliche) Bruchlinien innerhalb des rechten Lagers, die in den nächsten Tagen höchstwahrscheinlich erneut an die Oberfläche treten werden.
Wenn das konservative Lager wieder regieren will, muss es eine Mehrheit der Südkoreaner von seinen Visionen überzeugen und sowohl Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen für sich entschieden.
Besonders gespannt darf man als Beobachter sein, wie es vielen Neurechten (New Right) ergehen wird. Mit Yoon kamen viele ehemalige Figuren der New Right, die ihren Höhepunkt in der Lee Myung-bak Regierung (2008-13) hatte erneut in Machtpositionen. Viele Entscheidungen der Yoon-Regierung werden auch deswegen so scharf von der progressiven Demokratischen Partei kritisiert, weil mit diesen Figuren viele Geschichtsrevisionisten, die Kolonialzeit, Diktatur und staatliche Massaker als "Fundamente der Wirtschaftsentwicklung" umdeuten und wiederholt die Behauptungen in den Raum stellen, dass die Demokratiebewegung 1980 in Gwangju von Nordkorea gesteuert worden sei, nach wie vor in wichtigen Positionen sitzen.
Da Südkorea in den deutschsprachigen Medien generell eher wenig Aufmerksamkeit erfährt, werde ich in den nächsten Tagen und Wochen regelmäßig Hintergrundanalysen veröffentlichen, damit auch deutschsprachige Leser die vielen Dimensionen südkoreanischer Politik besser einordnen können. Ich werde dabei im Unterschied zu akademischen Fachartikeln auch darauf achten, dass diese Artikel einfach zu lesen sind. Geplante Themen sind unter anderem: innenpolitische Polarisierung, die südkoreanische Neue Rechte (2004-) und ihr politischer Einfluss, das progressive Lager, Nordkorea als diskursive Waffe in der Innenpolitik und das Thema Geschichtspolitik und Erinnerung an die Militärdiktatur(en).
Als eine lebendige Demokratie lohnt es sich gerade in Zeiten wie diesen, öfters einen Blick auf den Süden der koreanischen Halbinsel zu werfen.
(Patrick Vierthaler. Assistenzprofessor für koreanische Zeitgeschichte am Hakubi Center / Institute for Research in Humanities, Universität Kyoto, Japan. Forschungsfeld: Südkoreas Umgang mit seiner autokratischen Vergangenheit, Medien und Kollektives Gedächtnis. www.pvierthaler.com)
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