In der Nacht des 3. Dezember schockte Präsident Yoon Seok-yeol Südkorea mit einem versuchten Militärputsch. In der Woche seither überschlagen sich in Seoul die Ereignisse. Eine Analyse.
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Das Militär auf dem Weg ins Parlament. Eine angebliche Notwendigkeit, den Staat vor zersetzenden Kräften zu schützen. Eine drohende Verhaftung wichtiger Oppositionspolitiker. In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 2024 sahen sich viele Südkoreaner zurückversetzt in die 1970er- und 80er-Jahre, die Zeit der Militärdiktatur, die als längst überwunden galt. Seither kommt das Land nicht zur Ruhe.
Zeit für eine Bestandsaufnahme im Schatten Syriens, wo mit dem Sturz Bashar al-Assads nach 14 Jahren ein blutiger Bürgerkrieg sein vorläufiges Ende fand und (berechtigterweise) die Aufmerksamkeit deutschsprachiger Medien auf sich zieht.
Wie letzte Woche berichtet (und auch im Standard zu finden), kam diese Eskalation durch Yoon für Beobachter koreanischer Innenpolitik nicht völlig überraschend – auch wenn die Art, ein versuchter Militärputsch, in diesen Dimensionen die schlimmsten Befürchtungen der koreanischen Gesellschaft bewahrheiten ließ.
Ein gescheitertes Amtsenthebungsverfahren
Noch am selben Tag reichten die Oppositionsparteien vereint einen Antrag auf Amtsenthebung (sowie einen Antrag auf eine spezielle Untersuchung gegen die First Lady Kim Keon-hee) ein. Mit gemeinsam 192 (von 300) Abgeordneten würde bei einer Abstimmung nur 8 Stimmen der konservativen People Power Party (PP) benötigt werden, um Yoon seines Amtes zu entheben und ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten.
Am Samstag kam es gegen 17 Uhr zur Abstimmung beider Vorlagen im koreanischen Parlament. In beiden Fällen würde eine Zweidrittelmehrheit der Stimmen benötigt, allerdings müssten im Falle des Amtsenthebungsverfahrens mindestens 200 der Abgeordneten anwesend sein, anderseits wäre die Abstimmung ungültig.
Obwohl die PP-Parteiführung um Han Dong-hoon und Han Duck-soo ihre prinzipielle Zustimmung dafür signalisierte, dass Yoon Konsequenzen für den versuchten Putsch tragen müsse, kristallisierte sich im Laufe des Samstags die Parteilinie heraus, wonach die Regierungspartei die Abstimmung boykottieren würde, um somit einer Amtsenthebung entgegenzuwirken. Dem zuvor ging eine Entschuldigung Yoons, wonach er die Verantwortung für diese Situation trage. In den Augen der PP-Führung war diese Entschuldigung genug, um Yoon nicht sofort seines Amtes zu entheben.
Nachdem der Antrag auf eine Untersuchung der First Lady mit den Stimmen der konservativen Regierungspartei abgelehnt wurde, verließen die PP-Abgeordneten mit Ausnahme des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten und Unternehmers Ahn Cheol-soo geschlossen das Plenum. In den folgenden Stunden appellierte der Parlamentsvorsitzende U Won-sik von der Demokratischen Partei (DP) wiederholt an die PP, an der Abstimmung teilzunehmen. Nur zwei weitere Abgeordnete folgten diesem Aufruf. So konnte der Antrag mit 195 abgegebenen Stimmen nicht ausgezählt werden und scheiterte.
Die Opposition um die DP betonte daraufhin, man werde in der Folge wöchentlich einen Antrag auf Amtsenthebung einreichen.
Die Nacht vom 3. auf den 4. Dezember
Seit dem 4. Dezember werden schrittweise Details zur Nacht vom 3. auf den 4. Dezember bekannt. Diese Details zeichnen ein Bild eines radikalisierten und zugleich inkompetenten Präsidenten, dessen Handlunge nicht auf parteiübergreifende Kooperation abzielen, sondern stark von rechtsextremen Verschwörungstheorien beeinflusst sind.
Regierungsdokumenten zufolge war der Putschversuch seit mindestens November geplant. Eine zentrale Rolle kam dabei dem (mittlerweile zurückgetretenen) Verteidigungsminister Kim Yong-hyeon sowie Yeo In-hyeong von der Spionageabwehr zu. Ersterer soll Yoon dazu geraten haben, in der Nacht des 3. Dezember das Kriegsrecht zu erklären. Zweiterer soll einen Plan für diese Nacht vorbereitet und eingereicht haben.
In der versuchten Putschnacht gingen vor allem jene Bilder von 197 Soldaten um die Welt, die sich auf den Weg zum Parlament machten und Fenster einschlugen, um sich Zutritt zum Gebäude zu verschaffen. Eine Anti-Terroreinheit unter der Führung von Lt. Kwak Jong-geun wurde in jener Nacht vom Verteidigungsminister damit beauftragt, das Parlament zu stürmen und dafür zu sorgen, dass sich weniger als die Hälfte der Abgeordneten an der Abstimmung zur Aufhebung des Kriegsrechts beteiligen konnte. 10 Personen wurden dabei verletzt.
Die Soldaten erreichten das Parlament zu spät, ein Faktum, das auch damit erklärt wird, wonach die Luftwaffe nicht in die Pläne eingeweiht und der Einheit Kwaks daher das Flugrecht nach Seoul verweigerte. Gleichzeitig argumentiert Kwak, dass er seinen Einheiten jegliche Gewalt untersagte. Laut Kwak wurde dieser zweimal direkt von Yoon am Telefon kontaktiert und solle sich unter anderem darüber erkundigt haben, wo seine Truppe jetzt sei. Zudem habe Yoon befohlen, die Türen des Parlaments einzuschlagen und die Abgeordneten aus der Versammlung zu zehren. Kommandant Kim Hyun-tae von derselben Einheit nahm am 9. Dezember die volle Verantwortung auf sich für den Befehl, Soldaten zum Parlament geschickt zu haben und trat von seinem Amt zurück. Beide sind in der Zwischenzeit von ihren Ämtern zurückgetreten und mit polizeilichen Ermittlungen konfrontiert.
Der versuchte Sturm aufs Parlament war nicht die einzige Episode dieser Nacht. Zeitgleich machten sich 300 Einheiten des Verteidigungsspionageabwehrkommandos, das unter direkter Kontrolle des Verteidigungsministeriums steht und zunehmend als Architekt des Putschversuchs gilts, auf den Weg zur Nationalen Wahlbehörde. Auf Fotos von Überwachungskameras ist zu erkennen, wie eine Gruppe von Soldaten Fotos von Servern macht, angeblich auf der Suche nach Beweisen für Wahlfälschungen der Parlamentswahlen im April 2024, bei der die DP eine überwältigende Mehrheit erzielte.
Verschwörungstheorien, wonach Wahlen in Südkorea gefälscht seien, sind in rechtskonservativen Kreisen seit der Amtsenthebung Park Geun-hyes 2016-17 immer populärer geworden. Für viele rechtsaußenstehende war diese Amtsenthebung an sich unbegründet. Derartige Szenen sieht man seither immer wieder auf den (meist relativ kleinen) sogenannten Taegukki-Demonstrationen in Seoul. Spätestens seit der Parlamentswahl 2020, bei der die DP eine überwältigende Mehrheit erzielte, sind derartige Theorien allerdings zusätzlich, befeuert vom Aufstieg alternativer Medien, in der Öffentlichkeit zu finden.
Yoon hat zudem dem Chef des nationalen Geheimdienst NIS befohlen, Spitzenpolitiker und wichtige öffentliche Personen zu verhaften, darunter nicht nur DP Parteichef Lee Jae-myung oder Parlamentspräsident U Won-sik, sondern auch den PP Vorsitzenden Han Dong-hon. Darüberhinaus sollte z.B. der progressive Intellektuelle wie Yu Si-min, ein ehemaliger enger Vertrauter Roh Moo-hyuns und zwei ehemalige Richter des Obersten Gerichtshofes verhaftet werden, die 2017 für die Amtsenthebung Park Geun-hyes gestimmt hatten.
Doch es scheint auch, als sei die koreanische Halbinsel nur knapp an einer Eskalation innerkoreanischer Spannungen vorbeigeschrammt. Einem Bericht zufolge habe Verteidigungsminister Kim Yong-hyeon am 28. November befohlen, Ziele in Nordkorea anzugreifen und damit implizit einen Grund für das Verhängen des Kriegsrechts zu schaffen. Allerdings lehnte der Vorsitzende des Stabschefs derartige Anweisungen mit Grund auf die Gefahr einer Eskalation des Konflikts ab.
Mittlerweile wurde zudem klar, dass es eine Liste gab, die Yoon an Mitkollaborateure in der Polizei sendete, wonach um die 10 Organisationen, darunter das Hauptquartier der DP oder der Fernsehsender MBC - ein Ziel konservativer Attacken seit über 20 Jahren - besetzt werden sollten.
Die Suche nach Mitwissern und Schuld
Die große Frage in diesen Tagen, die Südkorea beschäftigt ist: wer wusste von Yoons Plänen? Bereits zwei Tage nach dem versuchten Putsch wurde berichtet, wonach es ein geheimes Kabinettstreffen gegeben habe, in denen Yoon seine Minister nach ihrer Meinung zur Verhängung des Kriegsrechts gefragt habe.
Der ehemalige Verteidigungsminister Kim Yong-hyeon – zurückgetreten am 5. Dezember - wurde in der Zwischenzeit verhaftet. Ihm droht (ebenso wie Präsident Yoon) eine Anklage wegen Aufruhrs (naeran 内乱) – ein Delikt, auf dem in Südkorea lt. Strafrecht Artikel 87 eine Strafe zwischen mindestens 5 Jahren Gefängnis und der Todesstrafe steht. Bisherige Indizien deuten darauf hin, dass Kim nicht nur ein Bauernopfer, sondern tatsächlich ein Mitwisser und Planer war.
Wie bekannt wurde, soll Yoon sich drei Stunden vor Verhängung des Kriegsrechts mit dem nationalen Polizeipräsidenten Cho Chi-ho und Seouls Polizeipräsident Kim Pong-sik getroffen haben soll. Beide wurden am 11. Dezember verhaftet.
Die Wut der koreanischen Bevölkerung richtet sich allerdings auch auf die konservative PP. In den Augen der progressiven Öffentlichkeit hat sich die PP durch den Boykott der Abstimmung zur Amtsenthebung am Samstag mitschuldig an Aufruhr gemacht. In dieser Stimmung druckten die großen progressiven Zeitungen des Landes (Hankyoreh, Kyunghyang sinmun) die Fotos aller Abgeordneten, die am Samstag die Abstimmung boykottierten, auf das Titelblatt. In den Augen vieler Beobachter untergräbt dieser Boykott die südkoreanische Demokratie.
Die Titelseite der Tageszeitung Kyunghyang sinmun vom 9. Dezember 2024. Wie in anderen Medien dieses Tages auch sind die Gesichter und Namen jener 105 Abgeordneten abgedruckt, die sich am 8. Dezember einer Abstimmung zur Amtsenthebung Yoon Seok-yeols verweigert haben. Quelle: Kyunghyang sinmun.
Wie bereits in meinem letzten Artikel angedeutet, sind 70-80% der Südkoreaner für eine schnellstmögliche Amtsenthebung Yoons. Dennoch weigert sich die PP-Führung vehement dagegen, dieser zuzustimmen. Es soll stattdessen ein geordneter Übergang stattfinden, mit eventuellem Rücktritt im Februar-März, damit eine Wahl im April-Mai stattfinden könnte.
Allerdings werden derartige Gedankenspiele selbst von den großen konservativen Medienkonglomeraten abgelehnt. Die Joongang ilbo, die zweitgrößte Tageszeitung des Landes die als Stimme der Großkonzerne gelten darf, zum Beispiel, hat Yoon bereits fallen gelassen. In einer auch ins Englische übersetzten Kolumne ist diese Haltung ersichtlich. Die täglichen Demonstrationen seit dem 4. Dezember, seien nicht wie bisherige vergleichbare Entwicklungen der letzten Jahre (z.B. die Itaewon-Katastrophe 2022 oder die Vorwürfe gegenüber Yoons First Lady) eine Angelegenheit von „unverbesserlichen linken“ (die-hard leftists) und „bezahlten Protestierenden“, sondern Ausdruck einer weitverbreiteten Unzufriedenheit mit Yoon und seinem versuchten Putsch – ein Zeichen, das auch die PP erkennen müsse.
In diesen Tagen sehen sich viele PP-Abgeordnete damit mit Blumengestecken konfrontiert, die man sonst bei Beerdigungen versendet.
Blumengestecke, die an den PP-Abgeordneten Lee Chong-bae gesendet wurden. Derartige Gestecke sind normalerweise bei Beerdigungen üblich. Quelle: Hankyoreh.
Doch würde ein „geordneter Rücktritt“ neue Fragen aufwerfen. Damit würden der derzeitige Premierminister und der PP-Parteivorsitzende interimistisch die Staatsgeschäfte führen. Mit nur knapp über 30% der Abgeordneten erscheint dies als eine von der breiten Mehrheit Südkoreas ungewollte Option. Koreanische Wortspiele, wonach die „People Power“-Partei (Stärke des Volkes, kungmin ŭi him) eher eine „People‘s Burden“-Partei (Last des Volkes, kungmin ŭi chim) seien, bekommen in diesen Tagen eine neue Bedeutung.
Verschiedene Wortspiele, die aus der „People Power“-Partei die „Aufruhr"-partei, den „Feind des Volkes“ oder die „Mittäter des Aufruhres“ machen. Quelle: Hankyoreh.
Derartige Vorwürfe zeigen, wie das konservative Lager mit der zunehmenden Popularität des progressiven Lagers umgeht. Anstelle von Argumenten treten Nebelgranaten: angeblich bezahlte Proteste, gefälschte Wahlen, illegitime Amtsenthebung. Dies alles entgegen auch wissenschaftlich nachgewiesenen Fakten, wonach gerade bei den rechten Demonstrationen im Zuge der Amtsenthebung Parks 2016-17 viele bezahlte Protestierende teilnahmen. Der Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 und die Verleugnung ihrer Dimensionen in der republikanischen Partei seither lassen grüßen.
Wenn man bedenkt, dass viele ehemalige neurechte Figuren wie z.B. Politikwissenschaftler Kim Yeong-ho als Verteidigungsminister wichtige Positionen in der Yoon-Regierung bekleiden, so lässt dies darauf schließen, dass Südkoreas Konservative nach wie vor die in der Öffentlichkeit großteils als Versagen wahrgenommene Scheitern der Lee Myung-bak und Park Geun-hye Regierungen (2008-17) nicht verdaut haben. In gewisser Hinsicht deuten die Rechtsaußen Youtube-Karrieren und Wahldiskretitierung vieler ehemaliger Neurechter wie Kim, Sin Chi-ho oder Yi Yeong-hun auf eine eigene Form des Postfaktischen in Südkorea.
Was jetzt?
Yoon selbst droht eine Anklage auf Aufruhr, ein Delikt auf das, wie bereits erwähnt, im schlimmsten Fall die Todesstrafe steht. Am 11. Dezember, zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels, wurde das Präsidentenamt von der Polizei durchsucht. Noch ist unklar, wie es weitergeht. Derzeit deutet nichts auf einen Rücktritt Yoons hin.
Wahrscheinlicher ist, dass in einem erneuten Amtsenthebungsantrag auch die PP-Abgeordneten beteiligen werden. 5 PP-Abgeordnete haben mittlerweile öffentlich kundgetan, in diesem Fall für eine Amtsenthebung zu stimmen. Es darf als wahrscheinlich gelten, dass auch drei weitere Stimmen gefunden werden und der PP mittel- bis langfristig eine erneute Spaltung droht, gefolgt von einem langfristigen Selbstfindungsprozess.
Doch was passiert dann? Es verbleiben zwei mögliche Szenarien, die teils auch ineinandergreifen.
Szenario 1: Yoon wird seines Amtes enthoben. In diesem Fall wird der Premierminister interimistischer Präsident und der Oberste Gerichtshof muss innerhalb von 180 Tagen zu einer Entscheidung kommen, ob die Amtsenthebung rechtmäßig sei. Hierfür müssen mindestens 6 der 9 Richter für die Amtsenthebung stimmen. In diesem Fall muss innerhalb von 60 Tagen nach dem Urteil eine Präsidentschaftswahl stattfinden.
Allerdings gibt es in diesem Szenario eine große Unbekannte. Derzeit sind, auch aufgrund der Streitigkeiten zwischen Präsident und Parlament seit Yoons Amtsantritt, 3 der 9 Richterstellen am Obersten Gerichtshof unbesetzt. Es wäre also eine juristische Grauzone, ob eine eventuelle einstimmige Entscheidung von nur 6 Richtern verfassungskonform sei.
Seit der Demokratisierung 1987 gab es in Südkorea zweimal ein Amtsenthebungsverfahren gegenüber Präsidenten.
Im März 2004 wurde Roh Moo-hyun von einer konservativen Mehrheit mit 193-2 Stimmen (bei damals insg. 272 Abgeordneten) seines Amtes enthoben, wobei die 47 Abgeordneten Rohs neu gegründeten Uri-Partei sich der Stimme enthielten. Roh wurde vorgeworfen, unter anderem mittels öffentlicher Unterstützung seiner Partei für die anstehenden Parlamentswahlen gegen das Gesetz verstoßen zu haben. Dieses Amtsenthebungsverfahren wurde von der südkoreanischen Öffentlichkeit rigoros abgelehnt. Roh war trotz einer konservativen Schmutzkübelkampagne als ehemaliger Menschenrechtsanwalt äußerst populär. Im Mai 2004, nach einem Erdrutschsieg seiner Partei bei den Wahlen, wurde seine Amtsenthebung vom Obersten Gerichtshof für unzulässig erklärt. (Die koreanische Neue Rechte entstand in Folge dieses Verlusts politischer Macht.)
Der zweite Fall betrifft mit Park Geun-hye die Tochter des ehemaligen Militärdiktators Park Chung-hee. Park stolperte über einen Skandal politischer Einflussnahme und das Teilen militärischer Geheimnisse mit der Tochter eines Schamanenführers auf die südkoreanischen Staatsgeschäfte. Park wurde am 9. Dezember 2016, nach knapp zwei Monaten immer größerer Massenproteste, von 234 der 300 Abgeordneten stimmten für Parks Amtsenthebung, der Oberste Gerichtshof hielt diese Entscheidung mit einem 8-0 Urteil aufrecht. Als Folge spaltete sich die bis dahin seit den frühen 1990er-Jahren stabile konservative Partei. Wie in meinem letzten Beitrag erwähnt, liegen in diesen Momenten einige Erklärungen für die zunehmende Radikalisierung des konservativen Lagers in Südkorea.
Szenario 2: Yoon wird unabhängig vom Ausgang eines Amtsenthebungsverfahrens verhaftet. Eine politische Immunität schützt nicht vor dem Vorwurf des Aufruhres. In diesem Fall würde der Premierminister ebenso interimistisch das Präsidentenamt bekleiden, doch der weitere Kurs erscheint mangels Präzedenzfalls unklar.
Szenario 2 erscheint unabhängig vom Ausgang einer weiteren Amtsenthebungsabstimmung immer wahrscheinlicher. Gegen Yoon wurde ein Ausreiseverbot verhängt und die zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Analyse durchgeführte Untersuchung des Präsidentenamts durch die Polizei lässt darauf hindeuten, dass es in den nächsten Tagen zu einer Eskalation kommen wird.
Stand 11. Dezember 21 Uhr (JCT) scheint es zudem so, als würde die PP ihren Boykott der Abstimmung aufweichen und Yoon demnächst seines Amtes enthoben werden.
Es muss erneut festgehalten werden, dass der Widerstand aus der Zivilbevölkerung von der Stärke der südkoreanischen Demokratie zeugt. Allerdings zeigen diese Ereignisse auch die Überbleibsel der autokratischen Strukturen aus der Zeit vor 1987 auf und die Gefahr eines Rückfalls in die Autokratie.
Progressive Intellektuelle wie Kang Chung-man, Choi Chang-jip oder Yu Si-min forderten seit den frühen 1990er-Jahren eine grundlegende Reform des südkoreanischen politischen Systems (darunter eine Beschränkung der präsidentiellen Macht und eine Reform der Medienlandschaft). Dies scheiterte allerdings wiederholt am Lagerdenken.
Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, ob nach der Amtsenthebung 2016-17 die Ereignisse des Dezember 2024 den Stein der Verfassungsreform ins Rollen bringen, oder ob das 1987-System mit all seinen Stärken und Schwächen auch weiterhin die politische Landschaft Südkoreas gestalten wird.
(Patrick Vierthaler. Assistenzprofessor für koreanische Zeitgeschichte am Hakubi Center / Institute for Research in Humanities, Universität Kyoto, Japan. Forschungsfeld: Südkoreas Umgang mit seiner autokratischen Vergangenheit, Medien und Kollektives Gedächtnis. www.pvierthaler.com)
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