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Kriegsrecht und eine drohende Amtsenthebung: Südkorea fast vier Jahrzehnte nach der Demokratisierung

Präsident Yoon Seok-yeol verhängte am 3. Dezember das Kriegsrecht, um Südkorea „vor anti-staatlichen Kräften zu schützen“. Nach einer turbulenten Nacht wurde das Kriegsrecht zurückgenommen. Der Präsident muss nun mit einer Amtsenthebung rechnen. Ein Blick in ein innenpolitisch polarisiertes Land. (5. Dezember, 11 Uhr japanischer Ortszeit)


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Was ist passiert?


Als am 3. Dezember 2024 um knapp 23 Uhr Ortszeit der südkoreanische Präsident Yoon Seok-yeol vor die Fernsehkameras tat, schockierte er die Öffentlichkeit mit der Erklärung, das Kriegsrecht zu verhängen, um „anti-staatlichen Aktivitäten“ und „pro-nordkoreanischen Sympathisanten“ entgegenzuwirken. Politische Aktivitäten und Parteien sollten ebenso wie Versammlungen verboten werden. Ein de facto Putschversuch.

 

In den nächsten Stunden überschlugen sich die Ereignisse. Aufgebrachte Bürger*innen stürmten zum Parlament in Yeouido, um das Militär am Eindringen in das Gebäude zu hindern. Helikopter landeten auf dem Gebäude, doch die Soldaten wurden von Sicherheitskräften im Parlament zurückgewiesen. 190 (von 300) anwesende Abgeordnete stimmten einstimmig dafür, den Kriegszustand aufzuheben.


Helikopter auf dem Weg zum südkoreanischen Parlament, 3. Dezember 2024. Quelle: Facebook.


Nur sechs Stunden nach dessen Verhängung nahm Yoon, durch Artikel 77 Absatz 5 der Verfassung gezwungen, die parlamentarische Abstimmung zu respektieren, das Kriegsrecht zurück. Der Präsident sieht sich nun mit Forderungen nach sofortigem Rücktritt oder Amtsenthebung konfrontiert und muss damit rechnen, wegen Landesverrats angeklagt zu werden.


Geschichtlicher Hintergrund


Wie konnte es zu solchen Entwicklungen kommen? Südkorea ist heute die zwölftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Smartphones, Elektronik, aber auch Populärkultur Made in Korea sind weltweit bekannt. Dennoch ist oft vergessen, dass das Land de jure seit 70 Jahren im konstanten Kriegszustand lebt.

 

1945 wurde Korea nach drei Jahrzehnten japanischer Kolonialherrschaft unabhängig, doch Hoffnungen auf eine geeinte Zukunft zerschlugen sich schnell angesichts des beginnenden Kalten Krieges. Die Halbinsel wurde von den Amerikanern und Sowjets besetzt und mangels Kooperation drei Jahre später politisch geteilt. Zwischen 1950 und 1953 tobte ein brutaler, im Westen oft vergessener Bürger- und Stellvertreterkrieg, der mit einem Waffenstillstand eingefroren wurde.

 

Während in Nordkorea nach dem Krieg ein stalinistisch-totalitäres System aufgebaut wurde und die Staatsführung bis in die 1960er-Jahre vereinzelte Erfolge der wirtschaftlichen Entwicklung vorweisen konnte, war der Süden bis weit in die 1960er-Jahre ein verarmtes, größtenteils agrarisch geprägtes Land.

 

Im Süden wurde angesichts der Teilung und des schwelenden Konflikts der Antikommunismus Staatsräson. Dazu ein Blick in die Geschichte: Der südkoreanische Staat selbst wurde auf dem Blut zehntausender ziviler Opfer errichtet. Das Jeju Massaker zwischen April 1948 und Mai 1949 mit 14.533 (offiziell anerkannten) zivilen Opfern ist hier nur einer von vielen Vorfällen, in denen staatliche Akteure vermeintliche Kommunisten ermordeten. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde ein Nationales Sicherheitsgesetz erlassen, dass pro-nordkoreanische und kommunistische Aktivitäten unter Strafe stellt und in den folgenden Jahrzehnten immer wieder missbraucht wurde, um oppositionelle Aktivitäten niederzuschlagen.

 

Nachdem der erste Präsident Südkoreas Syngman Rhee, ein pro-amerikanischer ehemaliger Unabhängigkeitskämpfer (der mit einer Österreicherin verheiratet war) 1960 aus dem Amt gejagt und eine kurze Phase der Demokratie im Land Einzug hielt, putschte sich 1961 mit Park Chung-hee ein Militärgeneral an die Macht für 20 Jahre die lenkende Hand des Staats. Unter Parks Führung erlebte das Land einerseits einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung, wurde andererseits aber immer autoritärer. 1972 erließ Park nach einer drohenden Niederlage die sogenannte Yushin (Erneuerungs-) Verfassung: die direkte Wahl des Präsidenten wurde abgeschafft und Park regierte fortan bis zu seiner Ermordung 1979 in stark autokratischer Weise.

 

1979-80 folgte eine kurze Hoffnung auf Demokratie, die wiederum in der Stadt Gwangju blutig durch Chun Doo-hwan, einen weiteren Militärgeneral niedergeschlagen wurde. Erst 1987-88, nach landesweiten Protesten infolge der brutalen Ermordung des Studenten Park Jong-Chul, wurde das Land schließlich demokratisiert und die heutige Verfassung in Kraft gesetzt.

 

Das Kriegsrecht wurde vor der Demokratisierung immer wieder von Präsidenten missbraucht, um gegen Oppositionelle vorzugehen. So zum Beispiel im Oktober 1948, im Juni 1964, im Oktober 1972 und zuletzt im Oktober 1979. An jeder Abzweigung in Richtung Autokratie wurde das Kriegsrecht ausgerufen und das Parlament umgangen. Wie von Historikern und Sozilogen wie Kim Dong-Choon treffend angemerkt, war die südkoreanische Verfassung oft das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt wurde. De facto war das oben erwähnte Nationale Sicherheitsgesetz die raison d'être der südkoreanischen Republik.


Demokratisierung und Polarisierung


Das demokratische Südkorea seit 1987 ist eine politisch zutiefst gespaltene Gesellschaft. Das konservative Lager sieht sich als Erben der wirtschaftlichen Entwicklung Südkoreas und ihr Land als eine antikommunistische Bastion des Kalten Krieges. Das progressive Lager hingegen als Erben der Demokratisierungsbewegung und ist stark interessiert daran, nicht nur die blutige Zeitgeschichte aufzuarbeiten, sondern auch eine Entspannungspolitik mit Nordkorea voranzutreiben. In den 1990er-Jahren begannen Konservative als Reaktion auf diese Aufarbeitung der Geschichte damit, Syngman Rhee als Gründungsvater und Park Chung-hee als Vater des Wirtschaftswunders zu verklären. Die vielen Todesopfer im Namen des Staates sollen, ganz wie im post-maoistischen China, zu notwendigen Übeln verklärt werden.

 

Seit den 1990er-Jahren kann die südkoreanische Politik grob als ein Wettstreit um den Abbau autokratischer Strukturen zusammengefasst werden. Nach dem ersten Regierungswechsel 1998 kam es zu einer innerkoreanischen Entspannungspolitik, die von den konservativen rigoros abgelehnt wurde. 2003 wurde mit Roh Moo-hyun ein ehemaliger Menschenrechtsanwalt Präsident und erreichte bei den Parlamentswahlen 2004 die erste Mehrheit für das progressive Lager. Dennoch konnte Roh seine Popularität nicht in Erfolge verwandeln und scheiterte unter anderem damit, das Nationale Sicherheitsgesetz abzuschaffen.


 Präsident Roh Moo-hyun (2003-08) auf der Insel Jeju, um sich im Namen des Staates für die Opfer des Jeju Massakers zwischen 1948-49 zu entschuldigen. Quelle: Jeju Today, 3. April 2006.



Das konservative Lager erfand sich angesichts dieser Niederlage unter dem Label „Neue Rechte“ (New Right) neu und schaffte es mithilfe der großen Medienkonglomerate, 2008 einen Regierungswechsel herbeizuführen. Dennoch konnten auch die Konservativen ihre scheinbaren Wahlerfolge nicht in politische Erfolge ummünzen und fielen bis 2017 vor allem damit auf, die Nordkoreapolitik der Kim-Roh Ära zu annullieren(*1) und eine rigoros geschichtsrevisionistische Politik voranzutreiben, die Diktatur und Kolonialherrschaft als Notwendiges Übel auf dem Weg zur erfolgreichen Volkswirtschaft verklären sollte.


Diese doppelte Vergangenheit der Kolonialzeit und Militärdiktatur ist von zentraler Bedeutung, um die innenpolitische Polarisierung nach 1987 einordnen zu können. Die herrschende Elite der Zeit vor 1987 entstammte zum Großteil der kolonialen Elite. Nach 1945 wurde aus pro-japanischen Beamten, Polizisten und Soldaten in vielen Fällen die anti-kommunistische Elite der Jahre 1948-87. Dies wurde dadurch verstärkt, dass bis zum Ende des Koreakriegs etwa 1,7 Millionen aus Nord- nach Südkorea flüchteten, darunter viele enteignete Landbesitzer,(*2) sowie ehemalige Beamte und Polizisten, die Teil der herrschenden Elite wurden.


Der Kalte Krieg verhinderte die Aufarbeitung dieser Vergangenheit. Ein parlamentarisches Kommittee zur Säuberung dieser kolonialen Überreste wurde im Sommer 1949 auf Druck Syngman Rhees aufgelöst. Erst Dissidentenintellektuelle wie die Journalisten und Publizisten Song Geon-ho, Ri Yeong-hui oder Oh Ik-hwan, der Literaturforscher Im Jeong-guk, aber auch die Gründer der koreanischen Zeitgeschichtsforschung in den 1980ern trugen maßgeblich dazu bei, dass dieses ungelöste Kapitel wiederentdeckt wurde. Für viele im progressiven Lager gilt diese unaufgearbeitete Vergangenheit als eine Erbsünde des Staates Südkorea.


Die Lösung dieser sogenannten chinilpa ("pro-japanische Kollaborateure")-Frage steht deshalb seit den 1990er-Jahren ganz oben auf der Agenda des progressiven Lagers und wurde 2004 unter Roh Moo-hyun zur Staatspolitik. Die pro-japanische Einstellung der New Right und Yoon Seok-yeols wird in diesem Kontext immer wieder scharf kritisiert. Für die New Right, auf der anderen Seite, war es gerade die Kolonialzeit - Stichwort "Colonial Modernization Theory" - die die institutionellen und personellen Grundsteine für die spätere wirtschaftliche Entwicklungen legte.(*3)

 

Die Spitze des Eisbergs neurechter Geschichtspolitik war der (letztlich erfolglose) Versuch, Geschichtslehrbücher 2015 zu re-nationalisieren, was einer Rückkehr zur Yushin-Zeit gleichgekommen wäre und in der Gesellschaft breite Opposition hervorrief. Umfragen aus dieser Zeit bestätigen ein Bild, wonach derartige neurechte Geschichtsbilder äußerst unpopulär sind.


Eine von zahlreichen Demonstrationen gegen die geplante Renationalisierung von Geschichtslehrbüchern im Herbst 2015. Demonstranten befürchteten eine Verklärung der Kolonialzeit (links) und Militärdiktatur (rechts) durch Präsidentin Park Geun-hye (mitte), die Tochter des ehemaligen Diktators Park Chung-hee. Quelle: Ohmynews, 15. Oktober 2015. 


Schließlich kam es 2016-17 nach Massendemonstrationen aufgrund politischer Einflussnahme und Korruption zu einer Amtsenthebung Park Geun-hyes, der Tochter Park Chung-hees. Bei der folgenden Wahl gewann mit Moon Jae-in ein Vertrauter des ehemaligen Präsidenten und setzte prompt auf eine Entspannungspolitik mit Nordkorea. Auch setzte er die Geschichtspolitik Rohs fort.


Seit Parks Amtsenthebung ist eine zunehmende Radikalisierung der südkoreanischen Rechten zu beobachten, die sich unter anderem in alternativen Medien und dem Anzweifeln der Gültigkeit der Wahl Moon Jae-ins äußert, von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung allerdings als abstrus abgetan wird. 2022 gewann allerdings mit Yoon Seok-yeol wieder ein konservativer das Präsidentenamt, nicht aber die Parlamentsmehrheit, zurückgewinnen konnte.


Die Ära Yoon Seok-yeol

 

Yoon Seok-yeol wurde 1960 in Seoul geboren und wurde nach den 1990ern zu einem prominenten Staatsanwalt, der 2016-17 das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidenten Park Geun-hye leitete. Ursprünglich kein konservativer, sah Yoon eine Opposition zu den Progressiven als opportunistische Chance, das Präsidentenamt zu erobern. Hierfür nutzte Yoon die Kraft seines Amtes, progressive Amtsträger mit Dreck zu bewerfen. Bei der Wahl 2021 ging diese Taktik auf. Mit Hintergrund einer platzenden Immobilienblase gewann Yoon die Wahl mit einem denkbar knappen Vorsprung von 247.000 Stimmen mit Hilfe weniger Stimmen aus dem reichen Süden Seouls, einem Viertel in dem vor allem Immobilienbesitzer leben.

 

Seit diesem Wahlsieg agiert Yoon allerdings aufgrund einer fehlenden Mehrheit im Parlament als lahme Ente und leidet unter (selbst für südkoreanische Verhältnisse) niedrigen Popularitätswerten. Anstelle von Kooperation mit der Legislative setzte Yoon allerdings vor allem auf konfrontative Rhetorik. Bereits 2023 attackierte Yoon, zunächst in einer Rede vor der antikommunistischen Korea Freedom Federation -- an sich bereits ein Novum im demokratischen Südkorea -- und schließlich auch in der zentralen präsidentialen Ansprache zum Unabhängigkeitstag am 15. August die Opposition als pro-nordkoreanische „kommunistische progressive“ und „anti-staatliche Kräfte“ (pan-kukka seryok), welche in einem Kotau zu „kommunistischem Totalitarismus“ die „liberaldemokratischen Werte“ Südkoreas mit Füßen treten würden.


In seinem ersten Jahr im Amt fiel Yoon vor allem durch teils abstruse Symbolpolitik auf. So verlegte er zum Beispiel den Amtssitz des Präsidenten vom Blauen Haus im Norden des alten Königspalasts in den Bezirk Yeongsan, in die Nähe des Verteidigungsministeriums. Hier wurde Yoon ein Hang zu Feng Shui vorgeworfen. Auch begnadigte Yoon die in Haft befindlichen ehemaligen konservativen Präsidenten Lee Myung-bak und Park Geun-hye.

 

Durch die fehlende Parlamentsmehrheit war Yoon in den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit de facto dazu gezwungen, vor allem Außenpolitik zu gestalten. Entgegen dem Willen eines Großteils der Bevölkerung betreibt er eine rigorose Entspannungspolitik gegenüber Japan, trotz alter Wunden um Zwangsarbeit und Sexueller Ausbeutung im Zweiten Weltkrieg, die sich seit 2018–19 in wiederholten bilateralen Justizstreitigkeiten und Handelskriegen äußerten. Gegenüber Nordkorea fährt Yoon eine orthodoxe Politik der Konfrontation. Hoffte man 2018 noch auf ein Ende des Koreakrieges, spricht Nordkorea mittlerweile von Südkorea als „Hauptfeind“ und die südkoreanische Gesellschaft debattiert in Folge geopolitischer Verschiebungen ernsthaft über nukleare Aufrüstung.

 

Letztlich verlor das konservative Lager die Parlamentswahlen im April 2024 krachend und konnte sich gegenüber dem historischen Tiefstand von 2020 nur leicht verbessern. Zusammen halten die progressive Demokratische Partei und die Reform Korea Partei 185 der 300 Parlamentssitze, was nur knapp an einer Supermehrheit vorbeischrammte. Yoons Hoffnungen auf ein Ende des Status als Lahmer Ente lösten sich somit in Luft auf.


Zunehmende Eskalation der politischen Rhetorik

 

Seit Yoon Amtsantritt versuchte die Staatsanwaltschaft zudem verzweifelt, dem progressiven Oppositionsführer Lee Jae-myung von der Demokratischen Partei (DP), einem ehemaligen Menschenrechtsanwalt und Gouverneur der bevölkerungsreichsten Provinz Gyeonggi, etwas anzuhängen. Wiederholt wurden die Büros von DP-Abgeordneten von der Staatsanwaltschaft durchsucht.

 

Am 2. Jänner 2024 eskalierte dies schließlich, es kam es zu einem Attentatsversuch auf Lee und schließlich im November zu einer erstinstanzlichen Verurteilung Lees aufgrund eines Bagatellvergehens gegen das südkoreanische Wahlrecht. Lee soll in einem TV-Interview die Unwahrheit zwecks einer Bekanntschaft gesagt haben und würde bei aufrechtem Urteil einen Ausschluss vom passiven Wahlrecht erleben.


Politische Gewalt in Südkorea 2024. Ein versuchtes Messerattentat auf Oppositionsführer Lee Jae-myung am 2. Jänner 2024. Quelle: Ohmynews. 


Ferner brennt es innenpolitisch an allen Ecken und Enden. Ein Konflikt zwischen dem Präsidenten und Ärzten über die Medizinausbildung resultierte in einem folgenreichen Ärztestreik seit Februar 2024. Die Geburtenrate sank 2023 auf ein Allzeittief von 0,72, dem niedrigsten Wert aller OECD-Staaten. Eine Hyperzentralisierung des Hauptstadtraums Seoul resultiert in zunehmend entvölkerten Landstrichen.

 

Die Konzentration der südkoreanischen Wirtschaft auf weniger Großkonglomerate - Stichwort "Republik Samsung" - ist ein weiteres Problem, ebenso der starke Regionalismus der wirtschaftlichen Entwicklungen, der den Südosten des Landes gegenüber dem Südwesten und Nordwesten stark bevorzugte. Viele dieser Entwicklungen sind, auf die eine oder andere Weise, ein Erbe der Entwicklungsdiktatur der 1970er und 80er-Jahre.

 

Andererseits sieht sich die First Lady Kim Geon-hee (in Korea werden bei Heirat die Nachnamen des Mannes nicht angenommen) mit unzähligen Anschuldigungen, u.a. einer Fälschung ihres Lebenslaufs, Aktienmanipulation, illegaler Geschenkannahme und politischer Einflussnahme konfrontiert. Yoon versuchte über Monate, derartige Anschuldigungen von sich abprallen zu lassen. Doch war es 2016 und 2019 gerade Yoon, der seine Vor-vorgängerin Park Geun-hye aufgrund politischer Einflussnahme des Amtes enthob und den Justizminister Cho Kok aufgrund Vorwürfe gefälschter Zeugnisse seiner Tochter in Bezug auf Universitätszulassung des Amtes entjagte. In einer Gesellschaft, in der Meritokratie hoch gehalten wird, sorgen derartige Nachrichten für starke Empörung und sind mit ein Grund, weshalb Yoons Popularität in niedrigen 20-30%-Regionen verbleibt.

 

Bereits im August 2024 warnte der DP-Abgeordnete Kim Min-Seok davor, dass Yoon womöglich einen Putschversuch mittels Kriegsrecht vorbereiten würde. Dies wurde von Rechtsaußen als Verschwörungstheorie abgestempelt, erwies sich mit Stand heute allerdings als Prophezeiung.


Aufrufe nach Rücktritt und Putschversuch

 

Gegenüber diesem Hintergrund versammelten sich seit Anfang November immer mehr Menschen im ganzen Land, um aktiv gegen Yoon zu demonstrieren. Nun sind politische Demonstrationen im Zentrum Seouls ein Teil des südkoreanischen Alltags. Dennoch nahmen diese Demonstrationen bald Dimensionen an, wie man sie zuletzt 2016-17 gesehen hat. Zum zentralen Gwanghwamun Platz in Seoul kamen am 16. November im strömenden Regen knapp einhunderttausend Demonstranten, um gegen Yoons zunehmend radikale Rhetorik und die erstinstanzliche Verurteilung Lee Jae-Myungs zu demonstrieren. Auf der Demonstration erklärte ein kämpferischer Lee, er sei nicht gestorben und werde auch in Zukunft für das Land arbeiten.


Yoon selbst und das konservative Lager sprechen davon, dass wiederholte Misstrauensansträge des Parlaments (22 seit 2022) einer Unterlaufung der Regierungsgeschäfte gleichkämen. Andererseits hat Yoon seit Amtsantritt bereits über 24 mal vom präsidentiellen Vetorecht gebraucht gemacht und damit Abstimmungen des Parlaments annulliert. Mit dieser Zahl hat Yoon all seine Amtsvorgänger seit 1948 zusammen um die Zahl 10 übertroffen.

 

An Universitäten im ganzen Land veröffentlichten Professoren und Studenten aller Disziplinen zudem Aufrufe, die Yoons sofortigen Rücktritt forderten, nicht nur in vermeintlich progressiven Disziplinen, sondern selbst in konservativen Regionen wie Busan und Ulsan.



Ein Aufruf zum sofortigen Rücktritt des südkoreanischen Präsidenten Yoon Seok-yeol an der renommierten Korea Universität in Seoul, 2. Dezember 2024. Quelle: Chosun ilbo. 



Die Verhängung des Kriegsrechts ist in diesem soziopolitischen Klima zu verordnen und legt die juristischen Kontinuitäten des demokratischen Südkoreas mit der Zeit der Militärdiktatur offen. Wie der Politikwissenschaftler Erik Mobrand treffend formulierte, war Südkoreas Demokratisierung eine fundamental konservative Top-Down-Angelegenheit. Das Nationale Sicherheitsgesetz und die starke Stellung des Präsidenten erlaubt auch unter der jetzigen Verfassung derartige Aktionen. Artikel 77 erlaubt es dem Präsidenten demnach, im Falle eines „militärischen Erfordernisses oder um die öffentliche Ordnung zu schützen“ das Kriegsrecht zu verhängen und die Presse- und Versammlungsfreiheit einzuschränken. Allerdings müsse in diesem Fall das Parlament umgehend informiert werden und das Kriegsrecht aufgehoben werden, sollte dies eine Mehrheit der Abgeordneten (151) beschließen.


Südkorea als lebendige, aber polarisierte Demokratie

 

Vor allem zeigen die Ereignisse des 3.-4. Dezember aber auch, dass die Demokratie Südkoreas trotz starker Polarisierung gefestigt ist. Abgeordnete wie Bürger sind im Zweifel bereit, sich einem außer Kontrolle geratenen Präsidenten aktiv entgegenzustellen. Es ist beeindruckend zu sehen, wie in der Nacht des 3. Dezember viele Bürger sich mittels Taxis auf den Weg zum Parlament machten oder sich in anderer Form dem Militär in den Weg stellten.


Ein südkoreanischer "Tank Man" in Seoul am 3. Dezember 2024. Quelle: Le Figaro.


Dies ist auch der Aufarbeitung der Geschichte seit den späten 1980er-Jahren durch engagierte, lokale Aktivisten zu verdanken. Dadurch ist die Erinnerung an die Gräuel der anti-kommunistischen Diktatur vor 1987 nach wie vor relativ lebendig. Filme über dunkle Episoden der Geschichte, wie zuletzt A Taxi Driver (2017) über das Gwangju-Massaker oder 12.12 The Day (2023) über den Putsch 1979 werden regelmäßig zu Kassenschlagern. Zwar haben, wie ich in meiner Forschung betone, auch die nationalistischen Sichtweisen des progressiven Lagers ihre durchaus problematischen Seiten (*4), doch handelt es sich hierbei eher um akademische Dispute denn Verleugnung und Verklärung von staatlicher Gewalt und Massenmord.

 

Es bleibt (Stand 5. Dezember 11 Uhr JCT) abzuwarten, ob Yoon von selbst zurücktritt oder des Amtes enthoben wird. Erste Reaktionen aus der konservativen People Power (PP) Partei deuten allerdings daraufhin, dass die PP das Amtsenthebungsverfahren nicht unterstützt. Es wird sich zeigen, ob wie bereits 2017 eine Handvoll Abweichler dem Antrag der Oppositionsparteien zustimmen werden und es zu einer Spaltung des konservativen Lagers kommt oder ob die PP in einer Trotzreaktion an Yoon festhält. In diesem Fall muss Yoon mit einer Anklage auf Landesverrat rechnen.


Erste Umfragen zeigen ein Bild, wonach knapp drei Viertel der Südkoreaner einer Amtsenthebung und einer Anklage auf Landesverrat positiv gegenüber stehen. Selbst die Chosun ilbo, eine eigentlich rigoros konservative Tageszeitung, kritisiert in einem Editorial Yoons Putschversuch als eine anachronistische Zeitreise in die Diktatur der 1970er-Jahre die einer führenden Volkswirtschaft unwürdig sei.

 

(Patrick Vierthaler. Assistenzprofessor für koreanische Zeitgeschichte am Hakubi Center / Institute for Research in Humanities, Universität Kyoto, Japan. Forschungsfeld: Südkoreas Umgang mit seiner autokratischen Vergangenheit, Medien und Kollektives Gedächtnis. www.pvierthaler.com)

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(*1) Unter Roh Moo-hyun wurde 2005 eine staatliche Kommission zur Wahrheitsfindung und Aufarbeitung der autokratischen Vergangenheit nach dem Vorbild Südafrikas etabliert (die Truth and Reconciliation Commission). Der neurechte Nachfolger Lee Myung-bak löste diese 2010 auf, was für einen Aufschrei unter Zeithistorikern sorgte, da die Kommission nur einen Bruchteil ihrer Arbeit erledigen konnte. Unter Moon Jae-in wurde die TRCK schließlich 2021 wieder eingesetzt und ist noch bis 2025 im Amt.

(*2) In Nordkorea wurde bereits im März 1946, vor der offiziellen Staatsgründung im September 1948, eine umfassende Landreform durchgeführt. In Zuge dieser Reform wurden viele Grundbesitzer enteignet. Ebenso kam es im Norden im selben Jahr zu einer umgehenden Säuberung kolonialer Elemente. In Südkorea hingegen wurde eine Landreform erst 1950, kurz vor Ausbruch des Koreakriegs verabschiedet. Innenpolitisch sahen viele progressive Intellektuelle in den 1980er-Jahren Nordkorea als Vorbild einer gelungenen Dekolonialisierung und Landreform. Umgekehrt versucht das konservative Lager seit den 1990ern wiederholt, die südkoreanische Landreform als grundsätzlich positiv darzustellen.

(*3) Es sei hier nur am Rande erwähnt, dass auch die Interpretation der sogenannten "Trostfrauen"-Vergangenheit ein heißes Eisen zwischen beiden Lagern ist. Die konservative Seite sieht das Problem als gelöst, während das progressive Lager auf einer formellen direkten Entschuldigung und Entschädigung des japanischen Staates beharrt. Es ist kein Zufall, dass japanisch-koreanische Beziehungen unter konservativen Präsidenten generell gut verlaufen, während es unter progressiven Regierungen zu Eiszeiten kommt.

(*4) So wird angesichts der Teilung zum Beispiel mit Kim Ku ein rechter Nationalist als alternativer Gründungsvater mythologisiert, weil er 1948 die ersten südkoreanischen Wahlen boykottierte und ein Boykott dieser Wahlen unter Umständen die Teilung Koreas und den Bürgerkrieg verhindert hätte. Hier geht es im Wesentlichen um die Frage, ob Koreaner von sich aus die Teilung der Halbinsel verhindern hätten können oder nicht.

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